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Allergien: mehr als ein Bauchgefühl

Barriere der Darmschleimhaut könnte fehlendes Puzzleteil bei Lebensmittelallergie sein

22 November 2021 6minuten

Lebensmittelallergien haben epidemische Ausmaße angenommen, ihre Ursache ist aber nach wie vor weitgehend unbekannt. In einem kürzlich veröffentlichten Review erörtert Prof. Desai vom LIH die klinische Relevanz der Darmschleimhautbarriere als Ort der allergischen Sensibilisierung gegenüber Lebensmitteln. Seiner Gruppe zufolge kann die Untersuchung der komplexen Zusammenhänge zwischen der Schleimhautbarriere, den zugehörigen Bakterien und dem Schleimhautimmunsystem unser Verständnis der Mechanismen voranbringen und eine fundierte Grundlage für Präventions- und Behandlungsstrategien bei einer Lebensmittelallergie liefern.

Die Sensibilisierung gegenüber Lebensmittelallergenen tritt ein, wenn die regulatorischen Immunreaktionen nicht mehr mit der Auslösung allergenspezifischer entzündlicher Immunreaktionen Schritt halten können. Lebensmittelallergien, beispielsweise gegen Erdnüsse, andere Nussarten, Meeresfrüchte und Kuhmilch, können in jedem Lebensalter auftreten und sich mit einem breiten Spektrum an Symptomen und unterschiedlichen Verzögerungen der Immunreaktion manifestieren. Inzwischen haben Fallzahlen von Lebensmittelallergien epidemische Ausmaße angenommen, ohne dass eine klare Ursache feststellbar ist. Westliche Länder verzeichnen eine Zunahme von Lebensmittelallergien, wobei in jüngsten Studien die Prävalenz von Lebensmittelallergien in Europa sowie unter Erwachsenen in den USA auf 6 % bzw. 10 % geschätzt wird.  In Anbetracht des dramatischen Anstiegs von Lebensmittelunverträglichkeiten haben Forschende und Kliniker den modernen Lebensstil und Umweltveränderungen als Auslöser ins Spiel gebracht.

In Zusammenarbeit mit Prof. Markus Ollert und Dr. Annette Kühn hat Prof. Mahesh Desai, Leiter der Forschungsgruppe Eco-immunology and Microbiome des Department of Infection and Immunity am Luxembourg Institute of Health, kürzlich einen Review zur klinischen Relevanz der gastrointestinalen Schleimhautbarriere als einem Ort der allergischen Sensibilisierung gegenüber Lebensmitteln veröffentlicht. Die Studie fügt klinisch bedeutende, bisher jedoch nicht miteinander verbundene Zusammenhänge in der Literatur mit weiteren Einzelaspekten aus unabhängigen Forschungsarbeiten durch verschiedene Labore zusammen, um die potenzielle Rolle der Wechselwirkungen zwischen Mikrobiom und Schleimhaut bei der Vermittlung von Lebensmittelallergien zu unterstreichen und Hinweise dafür zu liefern, wie wichtig die Darmschleimhautbarriere für die Aufrechterhaltung der oralen Toleranz und die Begrenzung der Exposition gegenüber immunologisch aktiven allergenen Rückständen ist.

Die Schleimschicht im Darm: wichtig, aber nicht genügend wertgeschätzt

Schleim ist ein wesentliches Merkmal der Schleimhäute, beispielsweise in den Atmungsorganen und im Verdauungstrakt. Die Schleimschichten entstehen durch Sekretion aus den Becherzellen, die die äußerste Schicht des Verdauungstrakts bedecken. Die von ihnen gebildete Barriere spielt eine wesentliche Rolle als Filter, der im Darm vorkommende Mikroorganismen draußen hält, während essentielle Nährstoffe und wichtige Moleküle hindurchtreten können. Die Schleimschicht in den Atemwegen hat eine ähnliche Schutzfunktion wie die im Verdauungstrakt, und während eines Krankheitszustands, beispielsweise bei Asthma, ist die Schleimregulation beeinträchtigt und verursacht krankhafte physiologische und funktionelle Veränderungen. Nach den Worten von Frau Parrish, Doktorandin in der Gruppe von Prof. Desai und Erstautorin der Publikation, „weiß man wenig über die Faktoren, die die Mikroorganismen im Darm ins Ungleichgewicht bringen und als Vermittler bei der Entstehung der Krankheit fungieren. Die Schleimhautbarriere, insbesondere die Glykoprotein-reiche Schleimschicht, die vor allem im Zusammenhang mit Dickdarmentzündungen und Infektionen untersucht wird, wurde in Bezug auf die Rolle, die sie bei der Entwicklung von Lebensmittelallergien spielt, oft übersehen.“ 

Im Zusammenhang mit Lebensmittelallergien befindet sich die Schleimschicht an der Schnittstelle zwischen dem Mikrobiom und dem Immunsystem, d. h. sie kann ein fehlendes Puzzleteil sein. Man weiß bisher noch recht wenig darüber, welche Auswirkungen das mit dem Schleim assoziierte und den Schleim abbauende Darmmikrobiom auf die Entstehung von Lebensmittelallergien hat. Neuere Daten haben insbesondere auf die Verbindung zwischen bestimmten auf der Oberfläche von Schleimhäuten vorhandenen Antikörpern und der Beschichtung auf den Darmbakterien hingewiesen – Berichten zufolge soll ein Zusammenhang zwischen einem Wechsel der Antikörperklasse und der Entwicklung von Lebensmittelallergien bei Kindern bestehen. Außerdem wurde gezeigt, dass Muzine (auf der Oberfläche des Darms vorhandene funktionale Glykoproteine, die die Oberfläche der Zellen schützen und „schmieren“) die Zusammensetzung des Mikrobioms im Darm regulieren. Eine durch falsche Ernährung verursachte Störung der Darmflora durch Besiedelung mit ungeeigneten Bakterien könnte zu unangemessenen Immunreaktionen auf Lebensmittel führen und Entzündungen fördern. Studien haben auch mehrere Typen muzinabbauender Bakterien identifiziert. Diese verursachen, wenn keine Ballaststoffe in ausreichenden Mengen vorhanden sind, einen übermäßigen Abbau der funktionalen Schleimbarriere und zerstören dadurch die erste Verteidigungslinie des Körpers, wodurch eine Immunantwort stimuliert und damit eine Prädisposition des Wirts in Richtung einer allergischen Sensibilisierung im Darm angelegt wird.

Eine Zunahme von Lebensmittelallergien, die nicht allein durch genetische Faktoren erklärt werden kann 

Wir betrachten die vom Mikrobiom ausgehende Erosion der Schleimbarriere und ihre immunogenen Konsequenzen als im Allgemeinen zu wenig beachteten Faktor, der bei der Untersuchung der verantwortlichen Mechanismen für eine Sensibilisierung in Bezug auf Lebensmittelallergien berücksichtigt werden muss“, erklärt Dr. Boudaud, die nach ihrer Promotion als Marie Skłodowska-Curie Fellow in der Gruppe von Prof. Desai mitarbeitet und Co-Erstautorin des Artikels ist. „Wenn die Schleimschicht gestört ist, könnte dies den Kontakt zwischen dem Immunsystem des Wirts und dem potenziellen Allergen erhöhen. Dies wiederum kann zur allergischen Sensibilisierung führen.

Die Autoren argumentieren, dass sich Faktoren wie u. a. der verringerte Verzehr von Ballaststoffen oder die erhöhte Aufnahme von Zusatzstoffen in Lebensmitteln als entscheidende Determinanten für die Veränderung der Funktion der Schleimhautbarriere und der Wechselwirkungen zwischen Muzin und Darmmikrobiom herauskristallisieren, die eine wichtige Rolle bei der Regulation von Lebensmittelallergien zu spielen scheinen. Deshalb sind Mechanismen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und der Sensibilisierung bezüglich Lebensmitteln herstellen können, ein sich neu eröffnendes Forschungsfeld, denn diese Arbeiten würden Behandlungsoptionen und Präventionsstrategien aufzeigen.

Wir schlagen hier vor, dass es weiterer Anstrengungen bedarf, um die funktionelle Rolle der Wechselwirkungen zwischen Schleim und Mikroorganismen und die Veränderungen in der äußeren Umgebung zu bewerteten, die sich auf diese Wechselwirkungen auswirken könnten. Im Zuge der veränderten Ernährungsgewohnheiten in der westlichen Welt mit einem hohen Fett- und niedrigen Ballaststoffanteil stellen wir beispielsweise die These auf, dass die Zunahme bei Störungen der Barrierefunktion, die durch diätetische Faktoren verursacht wird, den Schutz der Barriere verringern und dadurch zu dem plötzlichen Anstieg der Fälle von Lebensmittelallergien beitragen könnte. Die weitere Forschung sollte folgende Schwerpunkte setzen: 1) Wie wirkt die Ernährung als durch die Umwelt eingebrachter Auslöser, der die Schleimbarriere zerstört und anschließend zum Zusammenbruch der oralen Toleranz führt; und 2) ein besseres Verständnis, wie die Schleimschicht als therapeutisches Target für die Aufrechterhaltung der oralen Toleranz genutzt werden kann,

fasst Prof. Desai zusammen.

Der Review wurde kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Trends in Molecular Medicine unter dem vollständigen Titel: „Intestinal mucus barrier: a missing piece of the puzzle in food allergy“ veröffentlicht. 

Scientific Contact

  • Prof Mahesh
    Desai
    Head of the Ecoimmunology and Microbiome research group

    Department of Infection and Immunity Luxembourg Institute of Health

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